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Das hier ist die erste Erzählung, die ich geschrieben habe. Es geht um Jonathan und wie die Vergangenheit und vergangene Erfahrungen bis in das heutige Leben hineinreichen.

Teilt die Geschichte gerne, wenn sie euch gefällt! Lesezeit sind ca. 15 Minuten. Genießt!

Tag am Fluss

Es gibt diese echt krassen Tage. Die einen packen, einen mit sich schleifen, hineinreißen in einen Strudel aus verschiedenen Stimmungen und Gefühlen, ob man will oder nicht. Alles ist zu heftig, überreizt die Nerven, bedeutet auch etwas anderes, Verborgenes wie Spiegelungen im Dämmerlicht, in deren Schattengestalten sich Vergangenes und Heutiges vermischen. So ging es mir am Freitag.

Noch früh am Morgen war ich mit dem Trailer hinten am Pick-Up auf dem Rückweg, hatte Kunden oben am Fluss abgesetzt, wollte jetzt nach Hause. Die Sonne reichte knapp über die Berge, die Luft war klar, die Landschaft überscharf wie in Glas gegossen, eine Frische in allem, die einen beim Atmen im Körper kneift. Der Motor brummte gleichmäßig und für einen Augenblick erstreckte sich die Straße vor mir in die helle Unendlichkeit der Morgensonne. Und ganz plötzlich hat mein Herz aufgemacht. Als ob sich ein Augenlid hebt. Landschaft und Natur reichten weit in mein Inneres, ein irres Gefühl, leicht und satt, eine ruhige Wachheit, die mir durch alle Glieder gekrabbelt ist. Losgelöst, schwebend fast, cruiste ich durch diese strahlende Weite, besinnungslos von so viel Schönheit. Entspannt hat meine Hand die Sonnenbrille hervorgekramt, das Fenster heruntergelassen, hinausgegriffen in die flatternde Morgenkühle, haben die Augen am Wegrand die vertrauten Orientierungspunkte registriert, die mir verrieten, wo auf der Strecke ich mich befand.

Ich bin dort schon tausendmal lang gefahren. Mit Kunden, aber auch allein oder mit Freunden. Mit Kajaks oder mit den schwarzen Raftingschlauchbooten auf dem Hänger. Neben der Straße rauscht der Fluss dahin. Voller ungezügelter Energie. Packt einen mit seinem Sound, mit dem hemmungslosen Wogen der Stromschnellen. Das ist meins. Wildes Wasser, das weiß schäumend, ganz außer Rand und Band um Felsblöcke wirbelt und sich durch enge, glatt geschliffene Klammtäler hindurchzwängt. Seine Kraft und strudelnde Lebendigkeit machen mich ganz wach, verjagen die fade Taubheit, die sonst wie klarer Lack meine Seele überzieht. Im Kajak oder am Seil bei Klammbegehungen, wenn ich die Wucht eines Flusses auf dem Körper spüre, eine feste, machtvolle Umarmung, spüre ich mich. Ich fühle mich stark und klein zugleich. Voll präsent. In einem Kampf, nicht um den Sieg, denn ganz klar ist das Wasser stärker, aber ich muss mich behaupten, alles aufbieten, was ich kann und gleichzeitig respektieren, dass es Grenzen für mich gibt. Sonst geht es schief.

Für ein paar Momente wollte ich dem Fluss noch nahe sein, ihn neben mir spüren, habe runtergebremst, den Motor ausgeschaltet, bin im Schritttempo auf der leeren Fahrbahn dahingerollt, habe dem Wasser gelauscht. An dieser Stelle hat es an Wucht verloren, schießt aber immer noch schnell dahin, strudelt um die wenigen Felsblöcke, windet sich in beengten Kehren, immer wieder in gischtendem Zittern über flache Kiesstufen beschleunigend, das Tal entlang. Schon bald lag die scharfe Kurve am Seeufer vor mir, wo sich die Straße abrupt nach rechts wendet, der Fluss nach links abbiegt, sich mit erlahmter Kraft flach dahinschleppt, widerstrebend, denke ich immer, bis sein klares Wasser und seine laute Beweglichkeit im tiefen, stillen Grün des Sees ertrinken. Eine Trennung, die mich schmerzt, schnell außer Blick, wenn man die Kurve genommen hat. Neben einem liegt dann der See, füllt das Tal aus, schwer, dunkler Fichtenwald reicht in öder Monokultur herab bis ans Ufer.

Mich bedrückt der See. Macht mir Angst. Echt. Kriege so einen vagen Druck im Bauch und Beklemmung ums Herz. Wenn ich vorbeifahre, schaue ich praktisch nie aufs Wasser. Ganz stur haftet mein Blick auf der Straße. Die weißen Streifen links und rechts am Rand der Asphaltbahn sind wie zwei Geländer, die einem an einer schwierigen Wegstelle Halt bieten. Da bin ich konsequent, richtig dickköpfig. Schon seit Jahren. Ich habe den Impuls, mich zu schützen. Klingt vielleicht seltsam, mir schon klar, ist aber so. Das Wasser ist mir unheimlich. Ich werde ganz unruhig, wenn ich mir die dunkle Tiefe vorstelle, grundlos, in die man ewig sinkt, oder aus der formlose Gestalten auftauchen können, Wesen aus einer anderen, vergessenen Welt. Etwas zappelt dann in mir, will weg, will nicht hinsehen. Klar ist das Quatsch. Klar lache ich über mich selbst. Aber dann. Es geht auch anderen so. Ich kenne viele Leute, die tiefe Gewässer unheimlich finden und nicht weit auf Seen oder aufs Meer hinausschwimmen, weil es ihnen bedrohlich erscheint.

Irgendwie auch bescheuert das alles. Komm mal klar, denke ich manchmal, wenn ich dort fahre und grinse über mich selbst. Mach dir nicht ins Hemd. Is‘ nur ’n See, Mensch. Tut dir nichts. – Ich spreche oft beim Fahren laut aus, was mir durch den Kopf geht. Lasse dabei die Aufnahmefunktion meines Handys laufen und spiele das zu Hause meinem Kater vor. Während ich ihn kraule, kommentiere ich dann meine Gedanken. Ein bisschen wie ein Gespräch. Spleenig vielleicht, tut aber gut.

Tatsächlich macht das alles bei mir und diesem See auch Sinn. Er ist nicht immer da gewesen, ist ein Stausee. Und früher, als ich ein Kind war, lag dort im Talgrund ein Dorf, mein Heimatdorf, nur ein paar Höfe über dem Fluss. Jetzt wohne ich in der neuen Ortschaft, eher eine Siedlung, am Fuß der Talsperre, die den See aufgestaut hat. Ziemlich blödsinnig eigentlich, dass sie die neuen Häuser direkt unterhalb des Dammes gebaut haben. Aber so wollten es die Dörfler. Sie haben auf diesem Ort so nah wie möglich am alten Dorf bestanden. Keiner wollte weg, obwohl es Entschädigungszahlungen gab, mit denen man woanders ein neues Leben hätte anfangen können. Auch meine Eltern nicht, ich nicht. Sicher war es auch Trotz. Nach den jahrelangen Protesten wollten sie zumindest etwas erreichen, sich nicht völlig geschlagen geben und so sind die Meisten in die neu errichteten Häuser in Sichtweite der Staumauer gezogen.

Der See hat also den Ort meiner Kindheit verschlungen. Verrückt, oder? Ich habe das mal ausgerechnet. Der Hof liegt jetzt gut 20 Meter unter der Wasseroberfläche. Nicht als Ruine oder zerstört, sondern wie er war. Sie haben ja alles gelassen, wie es war, die Häuser, die Straßen, die Obstbäume, Wiesen und Gehölze, das ganze Tal. Klar, was hätte man auch sonst machen sollen? Trotzdem, auf so eine Art denke ich, alles hätte vorher zerstört werden müssen. Verbrannt vielleicht. Oder gesprengt und mit Bulldozern niedergewalzt. So ist das Wasser einfach gestiegen. Ganz allmählich, Tag für Tag ist es die Wiesen hochgekrochen. So verdammt langsam. Geräuschlos. Und so verdammt unaufhaltsam. Irgendwann war dann alles abgesoffen. Zuletzt konnte man die roten Dächer mit den Schornsteinen sehen und es hat leise gegurgelt, als der wachsende See sich in alle Hohlräume gedrängt hat. Ein gieriges, beunruhigendes Geräusch. Macht mir Gänsehaut, wenn ich daran denke.

Das alles kam mir wieder in den Kopf, Freitag vor zwei Tagen, als ich am See entlang gefahren bin. Keine Ahnung, warum. Normalerweise denke ich da nicht drüber nach. Ist ja auch lange her. Aber der See lässt mich einfach nicht los. Eine Mahnung, ein Ding, etwas, das das Vergangene bewahrt, wo es festgehalten ist. Wie eine DVD mit Fotos, die einem immer mal wieder in die Hände kommt. Bilder von Zeiten, die man vergessen möchte, die man abgehakt hat, die man aber trotz allem nicht wegtun kann. Die gleiche spiegelnde Oberfläche. Und dann, ganz praktisch auch, alles Vergangene so endgültig los zu sein. Verstaut am Grunde eines Sees. Lustig, denke ich manchmal, lustig, weil so was ja nicht jedem passiert. Eine gute Story auch. Außer wenn ich hier vorbei fahre, kommt das in meinem Alltag nicht vor. Weggepackt eben, versunken. Ich bin frei, lebe mein Leben.

Ich musste dann doch schauen. Den Motor hatte ich wieder angelassen, wollte am See vorbei. Mein Blick ist fast ohne mein Zutun über das Wasser gedriftet, über den Wald auf der anderen Seite. Die Straße lag noch im Schatten des Berges, aber der See hat in der Sonne geblitzt. Gleißend hell, eine Lichtexplosion, die mich trotz Sonnenbrille auf der Netzhaut getroffen hat. Für einen Moment, wie auf einem Fotonegativ, habe ich das Tal gesehen, wie es früher war, mit dem Fluss am Grund, Kühen auf der Weide und den Häusern. Eingebrannt für die Ewigkeit.

Mein Blick zuckte zurück auf die Straße, ich konnte aber das Bild nicht abschütteln, das mir in weißem Flimmern vor Augen stand, die Fahrbahn verdeckt hat, mich, den Wagen mit dem Hänger eine schlingernde Kurve machen ließ, haltlos für panikgetränkte Bruchteile einer Sekunde, bis das Asphaltgrau wieder durchgedrungen ist ins Hirn, die Seitenstreifen mich bei den Händen fassten, die Räder zurückgefunden haben in ihre Bahn. „Jona, Jona. Junge, wo bist du? Hockt am Fluss wie immer. Es wird dunkel. Schau, dass du hochkommst“, hallte die Stimme empor, von früher, gedämpft von der spiegelnden Wasseroberfläche. Schwitzig haben meine Hände den Lenker umklammert, auch unter den Achseln war mir Schweiß ausgebrochen, ist feucht seitlich am Brustkorb hinabgeronnen.

Mache ich mir was vor? Jona … Machst du dir was vor?

Das Leben ist gut zu dir. Du hast einen Job, der dir Spaß macht, bist viel draußen, viel auf dem Wasser, am Fluss, bist unabhängig, dein eigener Herr, keiner redet dir rein. Du hast Huck und jetzt auch die Crew. Das ist gut. Das ist viel. Ein Anfang auf jeden Fall.

Kurz vor dem Ortsschild hat das Telefon geklingelt. Es war Roland, einer meiner Bootsführer. Max, ein anderer Tourguide, hatte den falschen Trailer genommen und nun hatte Roland nicht genug Platz für alle Boote und wollte, dass ich rumkam und ihm den Anhänger brachte, den ich am Auto hatte. Wie ich so was hasse. Wenn etwas nicht so läuft, wie ich will. Eine Attacke aus dem Hinterhalt, die plötzlich die geordneten Bahnen meiner Welt durcheinanderwirft. Ein übles Gefühl, als ob ich es verbockt hätte. Total und für immer. Nichts zu retten, nicht mehr gut zu machen, nicht zu verzeihen. Ich hätte es verhindern müssen, es verhindern können, habe ich nicht geschafft. Quatsch natürlich. Totaler Quatsch. Dinge gehen schief, weiß ich auch, das kann mich aber nicht beruhigen. Ich schieße da auf hundertachtzig, habe ins Handy gebrüllt, „Ihr Arschlöcher“, und „Könnt ihr nicht die einfachsten Sachen richtig machen?“, und „Ich muss dann den Dreck auslöffeln, Scheiße“, dann schließlich „Ich lasse den Wagen mit dem Hänger hier am Kreisverkehr stehen und lege den Schlüssel auf den Sitz. Du kannst ihn dir abholen, und wenn er bis dahin weg ist, hat Max ein Problem.“

Mies, oder? Kann mich da aber nicht bremsen. Ticke einfach aus. Es ist leicht, wenn man der Chef ist oder aus sonst einem Grund stärker oder einfach rücksichtsloser. Meine Mitarbeiter akzeptieren mein unmögliches Verhalten. Wahrscheinlich, weil man Chefs so was durchgehen lässt, und sie es auch nicht anders von mir gewöhnt sind. Am Montag nuschele ich dann ein „Nichts für ungut wegen Freitag“, und Roland sagt, „Schon okay, war ja schließlich dein freier Tag und du hattest schon die Fahrt am Morgen“. Dass er das ganze Wochenende gearbeitet hat, fast ohne freie Stunden, selbst gar nichts falsch gemacht hat und trotzdem alles ausbaden musste, das habe ich am Ende einfach niedergeschrien. Mich wirklich entschuldigen, sagen, dass mein Verhalten nicht okay war, dass man sich so nicht aufführt, dazu kann ich mich nicht durchringen. Ich würde mir nackt vorkommen, bloßgestellt, ganz der Gnade des anderen ausgeliefert. Auch wenn es korrekt wäre, ist mir das zu krass, also schwindel ich mich da halbgar durch.

Das Auto habe ich wirklich dort stehen lassen und bin die Abkürzung über die Felder zu meinem Haus gelaufen. Der Anblick macht mir immer gute Laune. Es ist komplett neu, neben der Einfahrt ist der Rasen noch spärlich, frisch gesät, man sieht die Erde zwischen den Halmen und um das Haus riecht es nach Farbe und Holzlack. Alles ist so frisch und perfekt wie ein gerade ausgepackter Schokoriegel. Dort vor mir mit den Fundamenten tief im Boden verankert stand der manifeste Beweis, dass es gut läuft. Mich beruhigt das. Wirklich. Wenn ich ums Haus gehe, über das glatte Holz der Fensterrahmen streiche und die schönen Terracottaplatten der Terrasse sehe, entspanne ich mich mit jedem Schritt ein bisschen mehr. Das hält mich. Wie ein Felsanker, an dem man sich beim Canyoning einhakt. Gibt mir Sicherheit. Und so ist es doch gut. Gut, weil ich, um ehrlich zu sein, nicht sicher bin, was ich von meinem Leben halten soll. In mir gibt es eine andauernde Spannung. Überwach taste ich mich durch die Tage wie ein Hase, der den Luchs wittert, ständig auf dem Sprung, ständig bohrt da das leise Gefühl, dass alles irgendwie einen Fehler hat, nicht trägt, einfach zerbrechen könnte. Ein Kajak, das am Fels zerschellt, weil man die Kontrolle verloren hat, der Fluss mit einem Mal stärker ist, einen packt und hinab zieht. Da ist es echt erleichternd, Momente zu haben, in denen sich die Spannung ein wenig löst, eben, wenn ich die Terrassenfliesen sehe oder barfuß über den geölten Holzfußboden im Wohnzimmer laufe.

Was mir auch hilft, ist mein Spitzname, Jo. Nicht mit deutschem „o“ gesprochen, sondern mit englischem „oe“, das ein wenig nachhallt, lang gezogen, Jo wie Joe – ein Cowboyname. Den habe ich mir selbst zugelegt. Irgendwann habe ich einfach „Jo“ geantwortet, wenn Leute nach meinem Namen gefragt haben. Und auch bei meinen Kumpels im Dorf hat sich das schnell durchgesetzt. Erst recht, nachdem ich mit dem Wassersportzentrum angefangen habe. Für eine Zeit war es fast Mode hier, sich Chris oder Tom oder Piet zu nennen. Jedenfalls mag ich mich als Jo.

Im Haus ist noch ein ziemliches Durcheinander. Die Dinge haben nach meinem Umzug noch nicht alle ihren Ort gefunden, sowieso habe ich viel zu wenig Möbel für den ganzen Platz hier. Auf dem Sofa im Wohnzimmer lag mein Kater Huck. Huck wie Huckleberry Finn, der jugendliche Vagabund, der auf dem Fluss zu Hause ist, mit seinem Floß den Mississippi runterfährt. Huck ist nicht wirklich ein Vagabund. Er ist groß und hat sehr weiches, etwas zotteliges, braun-grau getigertes Fell und liegt tagsüber meistens auf dem Sofa, lässt sich gerne kraulen, eher eine zarte Seele. Es ist schön, mit ihm zusammenzuleben, gibt dem Haus Wärme und es ist gut, sich um jemanden kümmern zu können, auch wenn Huck sehr selbstständig ist. Er ist ein guter Mäusejäger und würde sicherlich auch alleine zurechtkommen.

Habe mir ein paar Cornflakes mit Milch genommen und mich zu Huck gesetzt. Die wenigen Sätze vom Morgen anzuhören, hatte ich keine Lust. Die Sonne hat das Zimmer durchflutet und das intensive Blau des Himmels strahlte in den Raum, ganz ohne Grenzen. In der Wärme des Lichts hat sich mein Körper gelockert, die Muskeln haben losgelassen, ganz tief und mir war plötzlich danach zumute, einfach loszuheulen. So geht es mir manchmal. Wenn ich runterkomme von der Spannung, glaube ich. Ich würde dann gerne rausbringen, wie ich mich fühle, kann es aber nicht. Da sind einfach keine Worte. Wenn ich den Mund aufmache, um etwas zu sagen, ist mein Kopf leer. Weinen geht aber auch nicht. Ich muss nie weinen. Mein Hals ist ganz eng und es ist, als ob etwas, Tränen, dort innen herabrinnen, ganz zäh, und irgendwo in meinem Brustkorb geräuschlos ins Dunkel fallen. Dort muss sich ein ganzer See angesammelt haben über die Jahre, Tränensee, aufgestaut von diesem Würgen, einem wüsten Entgegenstemmen, nach dem sich der Hals ganz wund anfühlt.

„Hey Huck“, flüsterte ich rau, „Huck, Huck, gut dich hier zu haben.“ Meine Hände pflügten sich sanft durch sein Fell und er hat geschnurrt. Ein leises, beruhigendes Geräusch. „Mir geht der See heute nicht aus dem Kopf, weißt du. Heute Morgen, als ich vorbeigefahren bin, dachte ich, dort liegt mein Leben begraben. Komischer Gedanke, oder? Ich lebe ja. Sitze ja hier. Was meinst du, liegt mein Leben dort begraben? Als Kind mochte ich den Fluss. Das Wasser war laut und wild und ich habe am Ufer gespielt. Dort konnte ich alles hinter mir lassen, zu mir kommen. Eigentlich erinnere ich mich überhaupt nicht an viel von damals. Nur ein paar Schlaglichter. Ich bin froh, jetzt hier zu sein. Trotzdem. Es ist auch so, als ob ein Teil von mir ertrunken wäre. Dort in der Tiefe treibt. Und manchmal habe ich diese Vision, im Haus zurückgeblieben zu sein, als das Wasser kam, im Gewölbe des Kartoffelkellers in einer Luftblase, über mir der See, während ich langsam den Sauerstoff veratme.“

Keine Ahnung, wie lange ich auf dem Sofa saß in einer Art Dämmerschlaf und Huck gestreichelt habe. Die Zeit muss etwas zurechtgerückt haben. Wie man ein Möbelstück wieder an seinen genauen Ort rückt und damit die Beunruhigung behebt, die seine Position in die gewohnte Ordnung des Raumes gebracht hat.

Bin dann durchs Haus geschlendert, habe eine Cola getrunken. Für den Nachmittag war ich mit Leuten zum Grillen verabredet, mit der Crew, wie ich uns gerne nenne, Freunde irgendwie, Leute, die zusammenhalten, vielleicht, weil sie es müssen, wie eine Crew auf einem Schiff. Seit ein paar Monaten gibt es uns. Alex hat die Gruppe ins Leben gerufen, als er neu hierher gezogen ist. Die Anzeige hatte ich in der Lokalzeitung gefunden, Männergruppe in Gründung, und bin seit dem dabei. Wir sind zu viert, treffen uns einmal in der Woche zum Quatschen und hin und wieder einfach so, wie am Freitag, zum Grillen oder zum Sport machen. Auf unseren Wochentreffen kann jeder einfach was von sich erzählen. Wie es ihm geht, was gerade schwierig oder schön ist und die anderen hören zu und sagen dann, was ihnen dazu durch den Kopf geht. Mich macht das locker. Zu hören, wie andere auch ihre Schwierigkeiten haben, mitzukriegen, wie es in ihnen aussieht, so direkt teilzuhaben. Ist sonst nie so, hatte ich auch noch nie. So viel über das Leben anderer zu erfahren, ist ein Erlebnis, das einen aufwühlt und bewegt. Ganz ernst! Auch wenn es in dem Moment recht unspektakulär wirkt. Man fühlt sich weniger fremd in der Welt. Zumindest geht es mir so. Selbst habe ich noch nichts erzählt, aber ich bin mir sicher, das kommt noch. Alles hat seine Zeit, denke ich.

Später habe ich Mirko im Nachbardorf abgeholt, seine Frau hatte an dem Tag das Auto. Wir haben die Einkäufe fürs Grillen gemacht, die Sonne hat so richtig heruntergebrannt und ich habe mich schlapp und aufgedreht zugleich gefühlt.

Unser Lieblingsplatz ist eine Kiesbank am Ufer, wo der Fluss eine tief eingegrabene Schleife zieht, eine Abbruchkante aus Erde, darüber Bäume am anderen Ufer. Das Wasser ist hier gezähmt. Breit und gleichmäßig kommt es ein Stück weiter oben aus dem Turbinenwerk direkt an der Staumauer. Flussabwärts liegt das Wassersportzentrum und wir bieten auf diesem Teil des Flusses Kanutouren und Floßfahrten an, Junggesellenabschiede, Familienfahrten. Das macht meistens Roland. Mich ärgert es richtig, wie das Wasser so still dahinströmt, handsam. Macht mich manchmal richtig aggressiv. Zum Baden aber ist es dort perfekt.

Markus und Alex waren schon da. Haben uns umarmt, auch wenn meine Cowboyseele da leise protestierte, gehört aber dazu. Auf der Kiesbank lag die Nachmittagssonne und die Steine waren richtig heiß. Das Rauschen des Flusses drang einem durch alle Poren und das Ufergebüsch schloss uns tiefgrün leuchtend vom Rest der Welt ab.

„Schön euch zu sehen.“

Wir streckten uns für eine Weile in die Sonne.

„Ich fühl mich inzwischen ganz zu Hause hier mit euch.“ Markus lachte.

„Baden?“

„Klar!“

Das Wasser war kalt und hat unsere erhitzten Körper geschüttelt. Ein heftiger Kontrast, den man abkönnen muss. Alex stand ewig im knietiefen Wasser, bis er sich überwinden konnte reinzukommen. Wir ließen uns ein paar Mal von oberhalb der Kiesbank die Kehre entlangtreiben, haben uns dann in die zwei runden Vertiefungen im Fels weiter unten gelegt, wo das Wasser ganz warm ist. In unendlicher Arbeit hat der Fluss zwei richtige Becken ausgewaschen, ganz glatt mit Kieseln am Grund. Richtig schön.

„So angenehm, wenn die Wärme einem in den Körper kriecht.“

„Mir ist so richtig wohlig zumute. Wenn man mit Menschen zusammen ist, die man mag, genießt man noch viel intensiver.“

„Ja, doppelt, einmal für sich und einmal für die anderen.“ Mirko grinste uns träge an.

Die Stimmung, die Natur, unsere Lockerheit haben mich ganz benommen gemacht. Ein bisschen weggeschossen fast. Keine Witzeleien auf Kosten von anderen, niemand hat versucht, jemanden zu übertrumpfen, es hieß nicht, dauernd auf der Hut zu sein, sich entweder schlagfertig oder unempfindlich für Spott zu zeigen, wie ich es von meinen Kumpels kenne, aus der Arbeit, aus meiner Familie. Keine Spitzen, kein Niedermachen. Echt ungewohnt. Das liegt auch daran, dass wir uns besser kennen, glaube ich, durch unsere Gespräche. Man sieht den anderen immer mehr als Mensch. Wie er versucht, sein Leben so gut auf die Reihe zu bekommen, wie es eben geht. Und da will man ihm nicht noch extra eins reinwürgen. Mich packt da eher Bewunderung, fast eine Art Ehrfurcht, dass wir es als so zerbrechliche Wesen mit all den Dingen in der Welt aufnehmen. Klingt vielleicht hochtrabend, trifft es aber.

Am frühen Abend stand die Sonne dann schwer, in weichem Glühen im Talausgang und über uns schwebte eine Kumuluswolke wie ein riesiger Palast, rosa gefärbt vom Abendlicht. Wir hatten Grillkohlen entzündet, in einem Kreis aus Natursteinen, auf denen der Rost lag. Alles hat noch die Wärme des Tages geatmet, die Kohlen glimmten rot, ganz heiß, fertig für den Mais, die Gemüsespieße und das Fleisch. Die Dämmerung goss das Tal mit blauem Licht aus, erst hell, ganz allmählich dunkler. Das Wasser schien im schwächeren Licht lauter zu werden, ist uns näher gerückt, rührte an uns mit klammer Feuchtigkeit.

„Der Staudamm hat alles hier verändert. Er hat den Fluss gekillt. Früher kam er ganz wild die Berge runter, ungezähmt, mit Power. Jetzt liegt er am Grund des Sees begraben.“

Wir schwiegen.

„Der See ist aber auch der Fluss, oder? Das gleiche Wasser, eine Blase, auch lebendig auf seine Art.“

„Ein Aneurysma.“ Leises Lachen.

„Man kann dort oben schön schwimmen und surfen, wenn Wind ist. Und am Ufer wandern.“

„Ich war dort noch nie schwimmen, könnt ihr das glauben?“

Wir haben im Liegen gegessen. Das Brataroma im Gemüse und Fleisch war klasse. Scharf und köstlich, ist satt im Mund zerschmolzen, ein Genuss, der mich schlapp gemacht hat, so intensiv war er.

„Ich habe am Damm mitgebaut. Es war extrem, zu erleben, wie diese riesige Konstruktion sich erst in die Landschaft gefressen hat und dann über dem Tal thronte, auch wie ein Schutzwall.“

„Ja, jetzt ist der Damm ein Schutzwall, er hält den See zurück, der die Kraft hat, das Tal zu überfluten. Komisch nicht, ohne die Staumauer gäbe es den See nicht, vor dem uns die Staumauer schützt.“

„Ich habe mich damals auch gefreut, gegen Ende, nach all den zermürbenden Jahren voller Hoffnung und Enttäuschungen, dass alles im Wasser versunken ist. Als nur noch die Dächer des Dorfes zu sehen waren, war das richtig ein Moment der Erleichterung. Auch eine seltsame Lust an der Zerstörung.“

„Mit dem Tal sind alle meine Lieblingsorte verschwunden. So ein bisschen habe ich aufgehört etwas zu fühlen danach. Jetzt bedrückt mich der See, als ob etwas dort oben läge, Traurigkeit vielleicht und Wut und Angst.“

Auf die verglimmenden Kohlen hatten wir dicke Äste gelegt. Das Feuer loderte gelb. Im Osten war der Himmel tiefblau, samtig, im Westen noch hell, das Blau strahlend intensiv. Hier schon Nacht, dort die Spuren des Tages, der weiter über den Globus zog.

„Es gibt da eine Anspannung im Leben, oder? Eine innere Schwere, die so vertraut ist, dass sie meistens nicht auffällt.“

„Eine Art Festgefahrenheit unter den Abläufen des Alltags, die ganz gut funktionieren.“

„Und Erschöpfung.“

„Ich glaube, jeder Mensch hat ein Organ, das die Furcht und Wut und Traurigkeit aus dem Organismus filtert, wenn es keine Möglichkeit gibt, sie auszudrücken, nach außen abfließen zu lassen. Um Vergiftungen zu verhindern. Es kapselt diese Gefühle ein in einem Reservoir tief im Inneren, von dem das wache Bewusstsein nichts weiß.“

„Wie die Leber auf der stofflichen Ebene, aber im Seelischen.“

„Ein Gewässer ungeweinter Tränen.“

„Und indem es voller und voller läuft, macht es alle Regungen schwerer, es braucht stärkere Mauern alles zu halten und der Ausdruck von was Eigenem, des Lebendigen erstarrt unter dieser Anstrengung.“

„Und immer wieder, bei irgendwelchen unvorhergesehenen Ereignissen durchschwappen diese gespeicherten Gifte den Körper und die Seele und verursachen Aufruhr und Spannungen, ohne dass man wüsste, woher das kommt.“

Die Flammen haben sich tief in das Holz gegraben. Die Hitze gloste wild, unbezähmt in den Stämmen, rot mit schwarzen Schatten in den zersprungenen Oberflächen. Heiß, aber auch heimelig.

„Gerade habe ich ihn ganz plastisch vor Augen, diesen See in mir. Ziemlich groß.“

Im Dunkel sah ich lächelnde Gesichter.

„Hey, Jonathan, nur Mut.“

Nur Mut.

Die Nacht war da, sternklar und kühl am Rücken. Schwarz und messerscharf durchschnitt die Krone der Staumauer das Tal und ganz entfernt, auf der anderen Seite des Planeten, konnte ich den Tag spüren, hell, wie er näher rückte.

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